Eine Kirche von No(r)maden

Kübra Gümüşay dekonstruiert in ihrem Buch »Sprache und Sein« unser System von Sprache: Menschen, die von einer Norm abweichen, werden in Kategorien einsortiert, zu Kollektiven zusammengefasst und stehen unter Rechtfertigungsdruck. Sie spricht sich aus für eine Emanzipation aus diesem System, ein Ausbrechen aus der Schleife.

Worte prägen unsere Wahrnehmung. Welche Bilder erzeugen wir z.B. durch unsere online Bios? Wir können hier beeinflussen wie und als wer wir wahrgenommen werden. Stelle ich mich vor als »Diakon, Vater von 3 Kindern« oder als »Christ und Lasagneliebhaber«. Stelle ich mich vor als »Prof. der Theologie und Berlinerin« oder als »Metal-Fan und Gemeindekirchenrätin«. Ich kann entscheiden, welche Eigenschaften, Interessen, Funktionen und Titel ich in den Vordergrund stelle. Ich kann auch ganz versuchen auf Kategorien zu verzichten und z.B. ein Thema in den Fokus stellen oder alles offen lassen.

Wir sprechen hier oft von »Authentizität«, wo bewusste oder unbewusste Entscheidungen getroffen werden. Jede*r von uns nimmt Rollen ein, erfüllt, bricht oder spielt mit Erwartungen. Wir können uns facettenreich zeigen, wir können auch das Negative, das Schwierige zeigen. All das sind Entscheidungen, auch über Grenzen des Privaten, und das muss nicht negativ beurteilt werden. Es ist kein digitales Phänomen. Unsere Accounts, unser Auftreten ist in diesem Sinne immer auch inszeniert. Wir entscheiden, was wir fotografieren, welche Formulierungen wir benutzen und was niemanden etwas angeht. Manchmal bewusst und reflektiert, manchmal unbewusst oder aus dem Bauch heraus.

Im Kontext von #digitaleKirche und dem neuen Yeet-Netzwerk stehen einige Christ*innen unter besonderer Beobachtung. Sie haben sich dafür entschieden, als Christ*in, Pastor*in, Lehrer*in, Ehrenamtliche etc. für christliche Themen im Digitalen ansprechbar zu sein und ihre christliche Perspektive beizutragen für ein vielfältiges Bild von evangelischer Kirche. Sie stellen sich damit einer breiten Öffentlichkeit und auch einer besonderen innerkirchlichen Beobachtung und Bewertung.

Aus meiner Sicht tun sie vor allem eines: Sie brechen Kategorien auf. Sie zeigen: Niemand ist nur auf eine Eigenschaft, wie den Beruf, zu reduzieren, auch nicht Pastor*innen und andere beruflich Tätige in unseren Kirchen. Uns so hat eine Pastorin nicht nur eine »Expertinnenfunktion« für Bibelthemen, sondern sie ist auch Mutter oder Dorfkind, er ist auch Filmliebhaber oder versucht klimaneutral zu leben. Und so erzählen sie aus ihrem Alltag und sie tun dies als Christ*in, als Pastor*in und Lehrer*in. Und das ändert etwas, es bedeutet etwas. Es macht einen Unterschied, wenn ich von einer Pastorin lese, wie ihr Alltag mit Kind aussieht oder wenn sie von Sinn oder Glück spricht, von Überforderung oder Hoffnung. Wenn nicht das Leben ein christlicher Inhalt ist, was dann? Und wie gut tut es, wenn ich lese und sehe, dass auch eine Pastorin von persönlichen Grenzen spricht? Wie gut tut es, wenn sie auf Sexismus aufmerksam macht oder auch er sich Gedanken um Klimagerechtigkeit macht.

Aus meiner Erfahrung mit unserer mobilen Bauwagenkirche habe ich gelernt: Es prägt jedes Gespräch, dass ich neben dem Wagen führe, dass dort Kirche dran steht. Wer mich dort anspricht weiß, dass ich Christin bin und Teil der Kirche. Und dann führe ich manchmal ein Gespräch übers Wetter oder die technischen Fahrzeugdetails und manchmal über Gott und meinen Glauben. Wir schlagen momentan oft panisch die Hände über dem Kopf zusammen wenn wir die Mitgliedschaftsstatistiken sehen. Und gleichzeitig merke ich: Wenn ich raus gehe und offen bin, mal zuzuhören statt zu predigen, dann ist da auch bei vielen Distanzierten eine Erwartung oder ein Vertrauen, dass man bei Kirche oder mit Menschen aus der Kirche über persönliche Lebensfragen reden kann. Die Themen und Fragen sind da, nicht nur innerhalb unserer Kirche. Die Frage ist nur, ob wir zuhören und ob wir eine gemeinsame Sprache finden, um darüber zu reden. Oder anders gesagt: Gott ist schon »da draußen«. Ich muss weder die Fragen noch Gott »zu den Menschen bringen«.

Kübra Gümüşay beschreibt weiter: Wir definieren Normen und stellen alles andere in Abhängigkeit von diesen Normen. Ich glaube in der Kirche sind wir darin ganz groß. Wir konstruieren die »normale Kirchengemeinde«, »den*die Gemeindepastor*in«. In Abweichung davon beurteilen wir was und wer Kirche ist. Wenn ich mir Gottesdienste anders wünsche und immer wieder meine Stimme in den Diskurs einbringe, bin ich dann unkirchlich oder besonders loyal? Wenn ich im Digitalen Raum mit Menschen über Glaube und Leben ins Gespräch komme, bin ich dann weniger Pastorin als andere? Habe ich als Religionslehrer oder ehrenamtliche Christin weniger zu theologischen Fragen zu sagen als andere? Ich wünsche mir einen Diskurs über diese Normen, über unsere Kirchen-, Pfarr- und Berufsbilder. Und wenn wir so stolz sind auf unsere Rechtfertigungslehre, dann wünsche ich mir mehr Solidarität und mehr Gnade in unserer inner- und außerkirchlichen Kommunikation.

Ich habe Hochachtung vor denen, die experimentieren. Die sich in die erste Reihe stellen und sich damit auch persönlich angreifbar machen. Und dann muss mir persönlich nicht jedes Format gefallen, wieso sollte ich der Maßstab sein? Für mich zeigen die unterschiedlichen Personen mit ihren Accounts und Formaten: Kirche lebt in der Welt. Kirche ist vielfältig. Kirche besteht aus Menschen. Dafür bin ich Gott dankbar. Vielleicht brauchen wir wieder mehr Zelte. Menschen, die mit Schlafsack im Rucksack neue Wege und Heimat suchen. Die sich mit anderen auf den Weg machen. Vieleicht brauchen wir wieder mehr Wertschätzung für die Traditionen, die tragen und verbinden. Und die Erkenntnis, dass beides seinen Wert hat und Kirche ist, neben- und miteinander.

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