Eine theologische Herausforderung

CN: Ableismus, Gewalt, Tötung, Nationalsozialismus.

Am 28. April wurden in einer Einrichtung in Potsdam vier Menschen mit Behinderung getötet, eine Frau schwer verletzt. Sie starben in ihrem Zuhause, mutmaßlich getötet von einer Angestellten des Hauses. Nach einer solchen Gewalttat erwartet man für Gewöhnlich eine große mediale Präsenz, viel Berichterstattung und beginnende Aufarbeitung wie es zu so einer Tat kommen konnte, auch strukturell. Wir erlebten einen stillen Donnerstag. In der Tagesschau wurde kurz berichtet, an vorletzter Stelle der Sendung. Es gab ein rbb-Spezial, gefolgt vom Spielfilm „Ziemlich beste Freunde“. Behindertenrechtsaktivist*innen schrien auf. Sie kämpfen seit Tagen für Aufklärung, für Aufmerksamkeit und Konsequenzen. Sie kämpfen darum, dass die Opfer und Betroffenen Gehör finden. Darum, dass Ableismus als strukturelles Problem erkannt wird und die statistisch nachgewiesene Vielzahl der Gewalt gegen Menschen mit Behinderung benannt und angegangen wird.

Gerade weil diese Tat in einer diakonischen (also kirchlichen) Einrichtung geschah, sehe ich eine Verantwortung von kirchlicher und auch theologischer Seite, Stellung zu beziehen, die über Beileidsbekundungen hinausgeht.

Der behinderte Theologe Ulrich Bach schreibt: »Ich kann die Menschenwürde nicht definieren. Aber das weiß ich: Wenn wir nicht auf der Ebene ehrlicher Solidarität von Menschenwürde sprechen, wenn wir nicht uns selbst mit zum Thema des Nachdenkens machen, dann ist wirkliche Menschenwürde noch gar nicht in den Blick gekommen.«1 Er wehrt sich damit gegen die Trennung von Menschen in Behinderte und Nicht-Behinderte. Man nennt das heute auch Othering. Den anderen zum anderen machen, sich distanzieren. Wenn beispielsweise gesagt wird: »Auch Menschen mit Behinderung haben Würde.« Beim Erkennen hilft oft die Umkehrprobe: »Auch Menschen ohne Behinderung haben Würde« Klingt komisch oder? Wir können nur vom Menschen sprechen, wir können nur von dessen Würde sprechen, wenn sie gleichermaßen allen Menschen zukommt und wenn wir uns selbst mit einbeziehen. Ich, du, wir sind Menschen. Wir haben Würde. Wir haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Bach schreibt weiter, dass wir den Menschen folglich nicht an dem messen oder über das definieren können, was er besitzt oder kann, sondern durch das, was ihm von außen – von Gott – geschenkt ist. »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst.« Psalm 8,5.

Was ist eigentlich der Wert eines Menschenlebens? Wie messen wir den? Ist jedes Leben gleich viel wert? Was macht ein Leben lebenswert? Während der letzten Monate lese ich vermehrt Texte und Aussagen von Personen, die anderen den Wert ihres Lebens absprechen oder ihn beurteilen. Personen, die Menschen mit Behinderung ein lebenswertes Leben aberkennen. Die darin nur Leid sehen oder Belastung für andere. Diese Texte und die Gewalt, die in diesen Worten liegt, macht mich – als junge Frau mit chronischer Krankheit aber auch als Christin – unglaublich wütend und verletzt mich. Solche Worte sind kein Einzelfall. Im Kontext von Impfreihenfolge, von Diskussionen um Triage und den Schutz der Risikogruppe fielen immer wieder Aussagen wie diese. »Sollen sie sich halt isolieren, der Rest kann dann normal weiterleben.« »Gestern starb ein junger Mann an Covid-19, aber er hatte auch Vorerkrankungen.«

Der Nationalsozialismus hat uns schmerzlich und auf brutalste Weise vor Augen geführt, wohin Aussagen wie diese führen können. Wenn wir Menschen Lebensqualität, den Wert ihres Lebens, ihre Würde absprechen, weil sie krank sind oder eine Behinderung haben. In der sogenannten Aktion T4 wurden von den Nationalsozialisten 70 000 Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen in Konzentrationslagern ermordet. Ein Fakt, der in der Erinnerungskultur und im Geschichtsunterricht wenig Raum einnimmt.

Was setzen wir dagegen? Wir glauben an eine gute Schöpfung. Wir glauben an Gotteskindschaft und an Gnade, die von keiner Leistung abhängig ist. Wir glauben an Liebe und an Würde. An Gott, die sich Menschen in allen Facetten des Lebens zuwendet. Die sich nicht distanziert von Menschen, die als unrein gelten. Die nicht ausgrenzt und nicht zu einer Elite spricht. Wir glauben an Jesus Christus, der Leid und Schmerz kennt. Der uns die Narben in seinen Händen zeigt. Wir glauben an einen Gott, der sich nicht die Starken aussucht und beruft, sondern die, die zweifeln. Einen Gott, der jemanden wie Mose zum Verbreiter seiner Gebote macht und sich nicht darum schert, dass er eine schwere Sprache hat. Nein, er stellt ihm seinen Bruder zur Hilfe. Wir glauben an einen Gott, der fragt: »Was willst du, dass ich für dich tue?« und damit vor die Heilung die Selbstbestimmung stellt. Einen Gott, der Menschen anschaut. Gott, die uns geschaffen hat, nur wenig geringer als sich selbst. Und Gott sah dies alles an und siehe: Es war sehr gut.

Eines ist für mich unantastbar: Der Wert eines Lebens und die Würde eines Menschen. Niemals dürfen wir zulassen, dass dieser Wert wieder an Leistung geknüpft wird. Dass es Menschen zweiter Klasse gibt. Dass Menschen als Last gelten. Dafür steht unser Grundgesetz ein. Dafür steht ein christliches Menschenbild ein.

In der Vergangenheit haben auch kirchliche und theologische Positionen und Menschenbilder dazu beigetragen, dass Menschen mit Behinderung diskriminiert wurden oder Gewalt erlebten. Letzte Woche starben vier Menschen. In den Berichten wird von »Erlösung« als möglichem Motiv gesprochen. Und egal welche Gedanken die Person gehabt hat, bevor sie diese Menschen tötete: Wenn in einem solchen Kontext heute das Wort Erlösung gebraucht wird, dann müssen wir einerseits ganz klar festhalten, dass diese Formulierung in der NS-Zeit verwendet wurde, um die Ermordung Tausender Menschen zu rechtfertigen, und gleichzeitig, dass diese Formulierung einen religiösen, einen christlichen Hintergrund hat. Ableismus und Behindertenfeindlichkeit gibt es überall in unserer Gesellschaft und damit – natürlich – auch innerhalb von Kirche und Diakonie. Und ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Es gibt etwas wie Christlichen Ableismus: Es ist ein falsch verstandenes, gefährliches Konzept von Nächstenliebe, die zwischen »uns« und den Armen/Kranken/Obdachlosen/Hilfsbedürftigen/… trennt. Das von Erlösung spricht und davon Leid zu beenden, während es eigentlich um Mord und Tötung geht, die gerechtfertigt werden will. Davon müssen wir uns klar distanzieren. In der Bibel heißt es: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Und ich denke zurück an den Satz von Ulrich Bach. Wir können nicht über die Würde der anderen sprechen, ohne von uns zu sprechen. Ich ergänze: Wir können nicht vom Lebenswert anderer sprechen, ohne von uns zu sprechen. Über Nächstenliebe. Über Hilfsbedürftigkeit. Selbstbestimmung. Nur so können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung nie wieder als bloßes Gegenüber gesehen und gedacht werden, als Objekte unserer Nächstenliebe und Fürsorge statt als Subjekte eines selbstbestimmten Lebens.

Wie können wir nicht die Ersten sein, die sich für die Würde und Selbstbestimmung, für die Sicherheit aller Menschen einsetzen? Eine echte Aufarbeitung kann es nur geben, wenn wir eigene Fehler und Fehler vergangener Generationen eingestehen. Wenn wir Denkmuster und Strukturen aufdecken, auch bei uns selbst, die Ableismus und in dessen Folge Gewalt möglich machten.

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